Versagung des aktiven und passiven Wahlrechts für Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitglied­staaten zu mitbestimmten Aufsichtsräten deutscher Unter­nehmen verstößt nicht gegen Europarecht

– Analyse nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 18. Juli 2017 –

Die mündliche Verhandlung vor dem EuGH

Das Kammergericht hatte dem EuGH in der Rechtssache C-566/15 (Erzberger/TUI) die Frage vorgelegt, ob es sich mit dem Unionsrecht verträgt, dass den Arbeitnehmern, die in ausländischen unselbständigen Betrieben und in ausländischen Tochtergesellschaften in anderen EU-Mitgliedsstaaten tätig sind, das aktive und passive Wahlrecht im Rahmen der deutschen Unternehmensmitbestimmung versagt ist. 

Am 24. Januar 2017 fand die mündliche Verhandlung vor dem EuGH statt. Die EU-Kommission ließ sich in der mündlichen Verhandlung dahingehend ein, dass zwar die Frei­zügigkeit tangiert sei, dies aber wegen der durch die Mitbestimmung verfolgten sozialen Ziele gerechtfertigt sei. Damit positionierte sich die EU-Kommission abweichend von ersten Stellungnahmen neu und verneinte eine Verletzung von Europarecht. Auch die Bundes­regierung bejaht die Europarechtskonformität.

Während in den Plädoyers einiger Mitgliedstaaten das sogenannte „Territorialitätsprinzip“ großen Raum einnahm, hegte der Generalanwalt in der mündlichen Verhandlung Zweifel daran, ob dieses als Rechtfertigung dafür ausreicht, dass das deutsche Recht die Wahlbeteiligung nur den in deutschen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmern einräumt.

Schlussanträge des Generalanwalts

Am 4. Mai 2017 verkündete der Generalanwalt seine Schluss­anträge, mit denen er dem Gerichtshof in gutachter­licher Form einen Entscheidungs­vorschlag unterbreitet. Er geht darin grundsätzlich von einer Vereinbar­keit des deutschen Mitbestimmungs­rechts mit dem Unionsrecht aus, unterscheidet jedoch mehrere Fallkonstellationen.

Der erste Fall betrifft in ausländischen Tochter­gesellschaften einer deutschen Mutter­gesellschaft tätige (ausländische) Arbeitnehmer. Hier sieht der Generalanwalt bereits den Anwendungs­bereich der Arbeitnehmer­freizügigkeit als nicht eröffnet an, da sich alle für die Beschäftigungs­verhältnisse maßgebenden Elemente auf nur einen (nämlich den ausländischen) Mitgliedstaat beschränken.

Der zweite Fall betrifft in Deutschland tätige Arbeitnehmer, die in eine Tochter­gesellschaft des gleichen Konzerns ins Ausland wechseln wollen. Zwar hält der General­anwalt hier die Arbeitnehmer­freizügig­keit für anwendbar, kann aber keine Beschränkung erkennen: Die unterschiedliche Behandlung der Arbeit­nehmer ergibt sich nämlich aus den unter­schiedlichen Mitbestimmungs­rechten. Den Mitgliedstaaten stünde es aber frei, ob sie in anderen Mitgliedstaaten tätigen Arbeitnehmern das Wahl­recht gewähren. Darüber hinaus sei ein Verstoß gerechtfertigt, weil das deutsche Mitbestimmungs­recht das Wahlrecht der Arbeitnehmer in gezielter Überein­stimmung mit wirtschafts- und sozial­politischen Besonderheiten gewährleiste.

Ein dritter Fall wird dagegen vom General­anwalt ausdrücklich ausgeklammert: Arbeitnehmer, die in ausländischen unselbständigen Betrieben einer deutschen Gesellschaft tätig sind. Der Generalanwalt lässt aber Zweifel erkennen, ob auch dieser Fall mit der Begründung eines rein innerstaatlichen Sachverhalts wie im ersten Fall die Arbeitnehmer­freizügig­keit nicht tangiert.

Auswirkung auf Schwellenwerte für Mitbestimmung

Von der Vorlagefrage nicht unmittelbar umfasst ist der Gesichtspunkt, ob die im Ausland tätigen Arbeitnehmer auch für die Schwellenwerte mitzuzählen sind, die dafür maßgeblich sind, ob das DrittelbG bzw. das MitbestG anzuwenden ist, d.h. ob die Schwelle von 500 bzw. 2.000 Arbeitnehmern überschritten wird. Diese Frage lag kürzlich dem LG Frankfurt und sodann dem OLG Frankfurt als Beschwerdeinstanz im Fall Deutsche Börse vor. Das OLG Frankfurt hat das Verfahren mit Rücksicht auf das Vorlageverfahren Erzberger/TUI zum EuGH ausgesetzt. Es geht dabei um einen vom Wahlrecht zu trennenden Aspekt. Die Berücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer für die Schwellenwerte würde dazu führen, dass ein erheblich größerer Anteil deutscher Gesellschaften aufgrund der plötzlich mitzuzählenden Arbeitnehmer im europäischen Ausland drittelparitätisch bzw. paritätisch mitbestimmt sein würde.

Urteil des EuGH

Der letzte Schritt in dem Verfahren war die am 18. Juli 2017 erfolgte Verkündung des Urteils des EuGH. Der EuGH war dabei nicht an die Schlussanträge des Generalanwalts gebunden.

Der EuGH urteilte, dass das Unionsrecht „einer Regelung eines Mitgliedstaats wie [… dem MitbestG] nicht entgegensteht, wonach die bei den inländischen Betrieben eines Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft des Konzerns sowie gegebenenfalls das Recht auf Ausübung oder weitere Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, wenn sie ihre Stelle in einem solchen Betrieb aufgeben und eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft dieses Konzerns antreten.“

Ebenso wie der Generalanwalt unterscheidet der EuGH mehrere Fälle: Einerseits bereits in ausländischen Tochtergesellschaften beschäftigte Arbeitnehmer, die zum Aufsichtsrat der deutschen Konzernmutter nicht mitwählen dürfen. Andererseits in Deutschland tätige Arbeitnehmer, die in eine ausländische Tochtergesellschaft des gleichen Konzerns wechseln und dadurch ihre Mitwirkungsrechte bei der deutschen Konzernmutter damit verlieren. Die Differenzierung des Urteils des EuGH weist jedoch nicht die Trennschärfe der Schlussanträge des Generalanwalts auf:

(1)  Für die in ausländischen Tochtergesellschaften tätigen Arbeitnehmer verneint der EuGH – ähnlich wie der Generalanwalt – die Anwendbarkeit des besonderen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den Bereich der Arbeitsbedingungen aus Art. 45 Abs. 2 AEUV. Es fehle es an dem notwendigen Element der tatsächlichen Ausübung der Freizügigkeit durch diese Arbeitnehmer.

(2) Für die in eine ausländische Tochtergesellschaft eines deutschen Konzerns wechselnden Arbeitnehmer verneint der EuGH ebenfalls einen Verstoß gegen Unionsrecht. Zwar falle diese Konstellation unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese verschaffe dem Arbeitnehmer aber nicht das Recht, „sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im Herkunftsmitgliedstaat nach den dortigen nationalen Rechtsvorschriften zustanden.“ Ein Mitgliedstaat sei deswegen nicht daran gehindert, die Rechte unter seinen Mitbestimmungsvorschriften nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe zu beschränken.

(3) Nicht behandelt werden vom EuGH – ebenso wie zuvor vom Generalanwalt – in ausländischen unselbstständigen Betrieben einer deutschen Gesellschaft tätige Arbeitnehmer, die ebenfalls kein aktives oder passives Wahlrecht nach dem MitbestG haben.

Konsequenzen für das deutsche Recht

Auch dieser letzte Fall dürfte aber nach dem Urteil des EuGH als unions­rechts­konform gelten. Die äußerst kurze Begründung des Urteils durch den EuGH lässt erkennen, dass er sich der Unions­rechts­konformität der deutschen Mitbe­stimmungs­vorschriften im Ergebnis sicher ist.

Die unionsrechtliche Bewertung der Nichtberück­sichtigung von im Ausland tätigen Arbeitnehmern bei den Schwellen­werten für die Mitbestimmung findet sich im Urteil nicht wieder. Ein „Mitzählen“ der ausländischen Arbeit­nehmer dürfte aber durch einen Erst-Recht-Schluss unions­rechtlich nicht geboten sein: Wenn bereits der Ausschluss vom „Mitwählen“ unproblematisch ist, muss dies erst Recht für das „Mitzählen“ gelten.

Das Urteil des EuGH hat damit weitestgehend Rechtssicherheit geschaffen. Die Unruhe, die mehrere Status­verfahren an deutschen Gerichten in dieser Angelegenheit für die unternehmerische Mitbestimmung gebracht hatten, dürfte sich damit erledigt haben. Die allgemeinen Erwägungen, warum es bei einer Gesell­schaft angezeigt sein kann, in die Rechtsform einer SE zu wechseln (z.B. Begrenzung der Größe des Aufsichtsrats), bleiben davon unabhängig bestehen.