„Dass nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine...“

Staat und Wirtschaft, Recht und Regulierung in Zeiten der Krise

Die Ordnung unserer staatlichen, supra­nationalen und wohl auch globalen Wirtschafts­­systeme steckt seit dem Zusammen­­­bruch von Lehman Bros. im September 2008 in einer Akzeptanz­­­krise, die historisch unpräzise, aber plakative Assoziationen mit der Welt­­wirtschafts­­­krise von 1929 hervorrief und deren Nachwirkungen bis heute anhalten. Sie verschafft dem persistenten Ruf nach „mehr Staat“, mehr und stärkerer Regulierung der Wirtschaft einen Resonanz­­­boden und verschiebt die politischen Legitimations­­koordinaten: Nicht mehr die staatliche Intervention zulasten der wirtschaft­­­lichen Freiheits­­­betätigung, sondern letztere selbst ist unter Recht­­fertigungs­­­druck geraten. Nichts hat in der ökonomischen Depression so sehr Konjunktur wie der Etatismus. Die Mahnung, die Friedrich Schiller Maria Stuart an Lord Burleigh richten ließ, nämlich misstrauisch zu sein, wenn der „Nutzen des Staates“ mit (mehr) „Gerechtigkeit“ gleich­­­gesetzt oder gar verwechselt werde, scheint hingegen vergessen.

Dabei ist die Rechtsordnung überreich an Vorschriften, deren Zweck es ist, unternehmerische Handlungsfreiheit zu steuern, zu regulieren und zu beschränken, Haftungs­risiken zu begründen und die deshalb das Potential bergen, die freie unternehmerische Entfaltung nicht nur zu disziplinieren, sondern – vor allem in ihrem Zusammen­­­wirken – im Keim zu ersticken. Dass auf diese Weise Wohlfahrts­verluste minimiert, gar Wohlfahrts­gewinne erzielt würden, ist weder empirisch noch theoretisch belegt. Auch deshalb müssen Rang und Maß staatlicher Intervention und Regulierung immer wieder neu bestimmt werden, aber das sollte nie geschehen, ohne sich des Bestandes, der Art und der Eingriffs­intensität wirtschafts­verwaltungs­rechtlicher Normen und staatlicher Regulierung zu vergewissern.

Forderungen nach mehr Regulierung des Wirtschafts­lebens irritieren vor allem, wenn sie aus jener Sphäre kommen, die in ihrer Funktion als „Lawmaker“ die Primär­verantwortung für Bestand und Zukunft von Regulierung trägt. Umso mehr Skepsis ist angezeigt, wenn – wie in jüngster Zeit allzu häufig – opportunistisch das (Wirtschafts‑)Strafrecht als Mittel reaktiver Krisen­bewältigung bemüht, mit politisch aufgeladenen Steuerungs­ansprüchen überfrachtet und so mit der Hypothek eines legislativen Seriositäts­defizits belastet wird.

Das Wirtschaftsverwaltungsrecht setzt Unternehmen seit langem Grenzen jenseits der klassischen Handlungs­formen der präventiven und repressiven Kontrolle sowie der staatlichen Planung; Wirtschafts­verwaltungs­recht ist heute auch und gerade Regulierungs­recht. Regulierung ist als zielgerichtete staatliche Gestaltung von Wettbewerbs­geschehen an wirtschaftliche Rationalitäten gebunden. Jeder regulatorische Gestaltungs- und Steuerungs­anspruch ist daher dem immanenten Risiko unmittelbarer ökonomischer Falsifizier­barkeit im Wirtschafts­leben ausgesetzt.

Die Komplexität unternehmerischer Wirklichkeit in einer ausdifferenzierten Wirtschafts­verfassung wächst. Das ökonomisch rationale Entscheidung­sprogramm des Unternehmers trifft jenseits hergebrachter Verhaltensge- und ‑verbote des öffentlichen Rechts sektoral abhängig auf ein gesetzlich vorgegebenes, aber ebenso unmittelbar an ökonomischer Rationalität ausgerichtetes regulatorisches Entscheidungs­programm. Wer angesichts bestehender ökonomischer Dependenz mehr oder zusätzliche interventionistische Maßnahmen fordert, muss seine Vorschläge deshalb daran messen lassen, welche normative Steuerungs­kraft sie in welchem Wirtschafts­sektor angesichts der jeweils geltenden sektorspezifischen Regulierung mit ihren je eigenen Beschränkungen unternehmerischer Entscheidungs­freiheit entfalten können.

Bei aller notwendigen sektoralen Feinjustierung gilt: Je weiter der regulatorische Gestaltungs­anspruch des Staatshandelns unternehmerische Entscheidungs­spielräume determiniert und vor allem limitiert, desto mehr übernimmt der regulierende Staat auch eine Mitverantwortung für unternehmerische Fehlleistung und Risiko­ver­wirklichung und umso mehr muss vor allem ein staatlicher Anspruch auf strafrechtliche Wirtschafts­lenkung zurückgenommen werden. Modellhaft handelt es sich um kommunizierende Röhren: Je mehr öffentlich-rechtliche Regulierung, desto weniger straf­rechtliche Wirtschafts­lenkung. Die Idee des Strafrechts als „liberalere“ Lösung erweist sich insoweit trotz ihrer liberal-idealistischen Attraktivität als Trugbild.

Empirisch werden wir in Zukunft immer mehr und nicht weniger an außerstraf­rechtlicher Regulierung haben. Das wäre quantitativ durchaus ein bedrohliches Szenario, doch gute Gesetzgebungs­kunst muss sich stets durch Maßnahmen der Kodifizierung, Gesetzesfolgen­abschätzung, Rechts­bereinigung, Bürokratie­kostenmessung und einer strikten normativen Erforder­lichkeits­­kontrolle bewähren. Wir leiden unbestreitbar an einer Hypertrophie der Rechtsetzung. Umgekehrt wäre es aber illusionär zu glauben, die Komplexität der Wirtschafts­beziehungen in Mehrebenen­systemen erlaube eine erhebliche Reduzierung des Normen­bestandes. Gerade das ökonomische Rationalität rezipierende Regulierungs­recht bietet jedoch entgegen modischen Trends die Chance zur legislativen Rückbesinnung auf den Vorrang guter wirtschafts­verwaltungs­rechtlicher Steuerung vor opportunistischer strafrechtlicher Kriminalisierung. Zu Recht wird heute über innovative, hybride Regulierungs­ansätze nachgedacht, die effiziente Steuerungskraft mit höherer Situationsadäquanz verbinden.

Demgegenüber vermag das Wirtschafts­strafrecht strukturell mit den Komplexitäten globalisierter Wirtschafts­systeme nicht Schritt zu halten. Das Strafrecht als „klassisches“ Instrument staatlicher Lenkung menschlichen Verhaltens sieht sich mit dem allgemeinen Befund konfrontiert, dass trotz aller jüngsten Renationalisierungs­tendenzen im unaufhaltsamen Globalisierungs­prozess der Staat seine klassischen Konturen durch veränderte Muster von Staatlichkeit nach und nach verliert. Mehrpolige Verwaltungs­rechts­verhältnisse in Mehrebenen­systemen institutionell, steuerungs­theoretisch und empirisch zu bewältigen, fordert Wissenschaft und Praxis des Öffentlichen Rechts heraus, und bei aller Komplexität darf das rechts­staatliche Paradigma nicht verloren gehen.

Die Kontext- und Folgen­abhängigkeit der Rechts­entwicklung hat im globalisierten Wirtschafts­system und in der modernen Wissens­gesellschaft eine neue Qualität gewonnen. Das Öffentliche Recht, und speziell das Wirtschafts­verwaltungs­recht, kann und darf den neuen Heraus­forderungen einer sich dramatisch verändernden Wirtschaft und Gesellschaft experimentell und kreativ begegnen, weil es über die Subordinations­beziehung zum Rechtsunter­worfenen graduell oder auch ganz disponieren, sie also durch Koordination und Kooperation substituieren und damit das korrespondierende, diese Flexibilität begrenzende Maß grundrechtlichen Schutz­anspruchs verschieben kann. Der moderne Gewähr­leistungs­staat hat überkommene Modelle unmittelbarer staatlicher Aufgaben­erfüllung durch Marktöffnung und Liberalisierung ersetzt, zugleich deren Wirkungen aber im Sinne einer staatlichen Gewährleistungs- statt Erfüllungs­verantwortung durch Bereitstellung gemein­wohlsichernder Regulierungs­strukturen grundrechtssichernd abgefedert.

Einem wirtschafts­lenkend missverstandenen Strafrecht wäre all das verwehrt, denn es ist denk­notwendig subordinativ, und wo der staatliche Strafanspruch auch nur ansatzweise zur Disposition gestellt wird, ruft dies rechtsstaatliches Unbehagen hervor. Trotz der im Unter­schied zum Strafrecht dem Öffentlichen Recht eigenen instrumentellen Entwicklungs­offenheit sind auch gleichsam restaurative Tendenzen erkennbar, die den Geltungsanspruch wirtschafts­wissenschaftlichen System- und Modelldenkens deutlich einzuschränken fordern. Die zivilisatorische Errungenschaft der Selbst­beschränkung des Staats auf die Gewährleistung von Rahmen­bedingungen wird derzeit in ungeahntem Maße einem praktischen Belastungstest unterzogen.

Dem für unsere Mandanten standzuhalten, darin sehen wir Öffentlich-Rechtler bei Hengeler Mueller unsere Aufgabe. Wir sehen im multipolaren Beziehungs­geflecht von Staat und Wirtschaft unbeirrt die hoheitliche Intervention unter Legitimations­zwang, nicht die Inanspruch­nahme unternehmerischer Freiheit. Mag auch „die regulierte Welt“ der Zukunft unausweichlich sein – „guter Regulierung“ gehört die Zukunft. Dirk Uwer